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Der BauernShop in Mitterretzbach – Nahversorger, Bauernladen, Tourismusdestination

Mitte August 2003 eröffnete in Retzbach der von dem damaligen Vizebürgermeister Helmut Löscher und der Gemeinderätin Maria Habrina initiierte „BauernShop“. Grund für die Eröffnung des Geschäfts war die Schließung der letzten Greißlereien Mitter- und Oberretzbachs Ende 1999. Mithilfe finanzieller Unterstützung der EU und Entwicklungsberatung durch AGRAR Plus gründete die Gemeinde Retzbach in den Räumlichkeiten der ehemaligen Milchgenossenschaft – an der Hauptstraße 4 in Mitterretzbach – das Geschäft. Zugleich Nahversorger, Bauernladen und Tourismusdestination ist der BauernShop zu einem zentralen Ort in der Gemeinde geworden.

BauernShop als Nahversorger

Wie viele andere ländliche Gemeinden in Österreich kämpfte Retzbach ab den 1960er-Jahren zunehmend mit dem Rückgang wichtiger Nahversorgungsbetriebe. Dies betraf österreichweit nicht nur den Lebensmitteleinzelhandel, sondern auch Postämter, Apotheken, Handwerksbetriebe und Gasthäuser, stellt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Peter Eigner fest. In den Orten Mitter- und Oberretzbach schlossen zwischen 1960 und 1999 vier Lebensmittelgeschäfte, drei Schuster, je ein Schneider, ein Wagner, ein Bäcker und ein Schmied sowie das Gasthaus „Exel“ an der Europastraße.

Gesetzlich gilt die Nahversorgung in Österreich als gefährdet, „[…] wenn es einer maßgeblichen Anzahl von Verbrauchern nicht möglich ist, die zur Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse des täglichen Lebens dienenden Waren unter zumutbarem Zeit- und Kostenaufwand ohne Benützung eines Kraftfahrzeuges oder öffentlichen Verkehrsmittels zu kaufen“ Fußläufigkeit zählt demnach als Teil einer funktionierenden Nahversorgung. Laut eines Artikels der Zeitung „Der Standard“ erreichen Bewohnerinnen und Bewohner größerer Städte und Ballungszentren den nächsten Supermarkt zu Fuß in weniger als fünf Minuten. In ländlichen Regionen Österreichs beträgt die Gehzeit jedoch meist mehr als dreißig Minuten. Nach der Schließung der letzten Greißlerei Ober- und Mitterretzbachs 1999 waren Anwohnende ganz auf die vier Kilometer entfernten Supermärkte in der nächstgelegenen Stadt Retz angewiesen.

Insgesamt ging die Anzahl der Lebensmittelgeschäfte in Österreich von über 20.000 1960 auf 5.731 im Jahr 2005 zurück. Die Gründung des BauernShops steht diesem Strukturwandel ländlicher Regionen entgegen. Der Mitterretzbacher Karl Binder ist im Verein, der den BauernShop organisiert, als Kassier tätig. Er erzählt von den Auswirkungen der Schließung der letzten Greißlerei: „Und es hat dann Null Nahversorgung gegeben in der Ortschaft“. Bewusst heißt der Betrieb „BauernShop“, da neben Erzeugnissen aus der Region auch „Dinge des täglichen Bedarfes“ zur Verfügung stehen, so Karl Binder. Im Verkaufsraum reihen sich in einem Holzregal Kaffee und Kaffeefilter, Reis und Haferflocken, Nudeln, Packerlsuppen und Suppenwürze, Puddingpulver, Süßigkeiten und vieles mehr aneinander. Die Milchprodukte kommen in einer täglichen Lieferung von Spar, erklärt die Verkäuferin Veronika Frank. Parallel dazu bietet der BauernShop auch in nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betrieben produzierte Lebens- und Genussmitteln an: Mehl und Nudeln, Tees, Honig, Speck, Käse und Wurstwaren, Eier, Obst, Gemüse und Wein von Weinbaubetrieben der Region.

BauernShop als Bauernladen

Das Produktsortiment des BauernShop verdeutlicht auch eine weitere Entwicklung: Seit den 1990er-Jahren vermarkten Produzentinnen und Produzenten sowie Supermarktketten und Diskounter vermehrt Lebensmittel „aus der Region“, beobachtet der Humangeograph Ulrich Ermann.

Der „Trend zur Regionalität“ begann bereits in den 1970er-Jahren, als sozial engagierte und umweltbewusste junge Landwirtinnen und Landwirte in Pilotprojekten neue Strategien der Direktvermarktung entwarfen. So verkaufte die Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft „BERSTA“ (eine Wortkombination aus „Berg“ und „Stadt“) landwirtschaftliche Erzeugnisse ökonomisch benachteiligter Regionen (entlang des Eisernen Vorhangs sowie in den Alpen) direkt in die Metropole Wien und überging damit die Abgaben an den Handel.

Mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 veränderte sich das Produktangebot im Lebensmittelhandel weiter, weiß der Soziologe Markus Schermer. Neue Wirtschaftsförderungen milderten den durch billige Produkte ausländischer Erzeuger entstandenen Preisdruck auf regionale landwirtschaftliche Produzenten. Die höchsten Zahlungen erhielt die Maßnahme „Ökologischer Landbau“. Dieser galt als wirksame Maßnahme, die kleinbäuerlich strukturierten österreichischen Betriebe wettbewerbsfähig zu erhalten. Innerhalb kürzester Zeit stieg die Anzahl biologischer Landwirtschaften rapide an. Gab es 1990 „nur“ 539 Biohöfe, wuchs die Zahl bis 1998 auf über 20.000.

Speziell in Österreich wird biologische Landwirtschaft, in den Worten Markus Schermers, als „step back to the future“ wahrgenommen und nicht etwa als technologische Neuerung. Hinweise auf traditionelle Produktionsmethoden, Tierwohl und die klare Nennung des Herkunftsorts spielen in der Vermarktung biologischer und regionaler Lebensmittel eine große Rolle. Rückgriffe auf alte Techniken der Lebensmittelherstellung spiegeln sich nicht zuletzt im Standort des BauernShop und den dort verfügbaren Waren. Bis in die 1960er-Jahre befand sich in den Räumlichkeiten an der Hauptstraße 4 das Mitterretzbacher Milchhaus. Dort wurde die Milch der umliegenden Landwirtschaften gesammelt, gekühlt und teilweise weiterverarbeitet. Alte Fotographien zeigen den Prozess der Einlagerung großer Eisblöcke im Winter zur Kühlung der Milch im Sommer, sowie die Fertigung diverser Milchprodukte. Nun trägt das Gebäude in großen, grünen Buchstaben die Aufschrift „Retzbacher BauernShop“.

Auch die Verpackungen der im Geschäft auf Holzregalen sauber angeordneten Erzeugnisse aus der Region prägt eine historisch anmutende Ästhetik: Braune Papiertüten, Pfandgläser mit schlichten Etiketten und Weidekörbe finden sich neben bedruckten Stoffsäckchen. Verpackungsmaterialien wie diese versprechen Authentizität und Regionalität, stellt der Kulturwissenschaftler Tobias Scheidegger in Untersuchungen zu der Bewerbung landwirtschaftlicher Waren in der Schweiz fest.

BauernShop als Tourismusdestination

Der „Trend zur Regionalität“ blieb nicht nur auf biologische Lebensmittel beschränkt, er ist Teil politischer Tourismusstrategien geworden. Bereits seit 2005 ernennt das Bundeministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus „Genuss Regionen“. 2019 übernahm die Agrarmarkt Austria Marketing GmbH die Verwaltung der Marke „Genuss Region Österreich“. Absicht ist, Regionen gemeinsam mit den für sie typischen Lebensmitteln und Produkten zu vermarkten. So zum Beispiel die Genuss Region „Retzer Land Kürbis“ oder „Weinviertler Getreide“. Des Weiteren bezeichnet die Weinviertel Tourismus GmbH den „Weinviertel DAC“ – einen Wein aus der Rebsorte „Grüner Veltliner“, dessen Hauptanbaugebiet im Weinviertel liegt – als „flüssige Visitenkarte des Weinviertels“. Abgekürzt von „Districtus Austriae Controllatus“ soll die Herkunftsbezeichnung „DAC“ den „regionaltypischen Herkunftscharakter“ im Geschmack des Weines hervorheben. Auch die Tourismusstrategie 2025 der Niederösterreich-Werbung GmbH verrät, dass neben der Wirtshaus- und Weinkultur regionale Produkte wie Most, Spargel, Mohn, Marillen, Dirndl und Whiskey gefördert werden.

Bernhard Tschofen, ein Europäischer Ethnologe aus Österreich, interessiert sich in seiner Veröffentlichung „Vom Geschmack der Regionen“ dafür, welche Auswirkungen die Vermarktung regionaler Produkte unter der Bezeichnung „kulinarisches Erbe“ auf die beworbene Region hat, ein ähnliches Anliegen verfolgt die Europäische Ethnologin Gisela Welz in ihrem Buch „European Products“ anhand des Beispiels Halloumi-Käse. Tschofen folgert am Ende seiner exemplarischen Untersuchung, dass durch die Herkunftsbezeichnung auf Produkten Zuschreibungen einer Region entstehen, die sich wiederum auf Begegnungen mit den Orten und Waren auswirken. Geschichten über eine Linzerin, die von Bekannten gehört hätte, in Retzbach gebe es ein so nettes Geschäft voller Bio-Produkte, einer Deutschen, die verzweifelt nach einem speziellen Whiskey gesucht und ihn schließlich im BauernShop gefunden hätte oder von tschechischen Radfahrer:innen, die Veronika Frank erzählt, unterstreichen die These Bernhard Tschofens.

 

Der BauernShop in Mitterretzbach hat unterschiedliche Funktionen: Fußläufig erreichbar ist er wichtiger Nahversorger der lokalen Bevölkerung. Die Verkaufsräumlichkeiten bieten landwirtschaftlichen Betrieben aus der Region eine weitere Möglichkeit ihre Produkte zu verkaufen. Sogenannte „Zuagroaste“ und Tourist:innen schätzen das vielfältige Sortiment regionaler Lebens- und Genussmittel des Geschäfts. Dennoch lohnt sich der Betrieb ökonomisch nicht; zur Aufrechterhaltung des Angebots bedarf es viel Engagement und Leidenschaft der Beteiligten. Dass sie diese aufbringen, mag auch an der sozialen Funktion des BauernShops liegen, die Veronika Frank hervorhebt: „Weißt du, was mir wirklich ganz, ganz wichtig ist? Wenn die älteren Leute kommen oder auch irgendwer von der Ortschaft, es wird ein bisschen geplaudert. Das Soziale, das ist, was mir am Herzen liegt.“

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