Audiowalk
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Bauernshop
Der Bauernshop wurde 2003 vom damaligen Vizebürgermeister Helmut Löscher und der Gemeinderätin Maria Habrina ins Leben gerufen. Anlass bot die Tatsache, dass immer mehr Geschäfte schlossen und die Nahversorgung nicht mehr garantiert war. Früher gab es hier eine Vielzahl an lokalen Betrieben. Neben dem Nahversorger „Blei“ oder dem vormaligen Geschäft der Roth berichten hier aufgewachsene Dorfbewohner auch von Handwerksbetrieben: Drei Schuster, zwei Schneider und jeweils einen Tischler, Wagner und Maurer gab es im Ort. Die Nahversorgung im ländlichen Raum ist österreichweit am Schwinden. „In Orten mit weniger als 5.000 Einwohn[enden]“, können 44% der Bewohner:innen nicht binnen zehn Gehminuten einen Nahversorger erreichen, weiß die Zeitung „Der Standard“ zu berichten. Somit nutzen fast 80% der ländlichen Bevölkerung häufig das Auto für den Einkauf. Um dem entgegenzuwirken, konnte mit Unterstützung der Projektentwicklungsfirma AGRAR PLUS sowie durch Förderung der EU der Bauernshop in Mitterretzbach eröffnet werden. Der Anglizismus „Shop“ ist dabei bewusst gewählt, denn nicht nur bäuerliche Produkte finden sich hier in den Regalen, sondern auch Artikel des täglichen Bedarfs. Im Jahr 2020 lief der Shop aufgrund der Pandemie besonders gut. Viele Bewohner:innen, die bislang nur sporadisch und am Wochenende im Ort wohnten, zogen in dieser Zeit längerfristig aufs Land. Die im Shop arbeitenden Frauen kommen selbst aus der Region und betreiben das Geschäft mit Herz und Seele. Der Shop bietet nach dem Prinzip der Direktvermarktung vor allem landwirtschaftliche Produkte aus der Region wie Wein, Säfte, Marmeladen oder eingelegtes Gemüse an. Auch hauseigene Backwaren von Bäuerinnen aus der Umgebung sowie frisches Brot, Aufschnitte und Fleisch gibt es zu kaufen. Daneben steht eine Auswahl von Produkten des täglichen Bedarfs wie Mehl, Zucker, Nudeln, Reis oder Packerlsuppen zur Verfügung. Verkaufsstark ist besonders der Sonntag: An die 40 Mehlspeisen gehen hier im Schnitt über den Verkaufstresen. Die gesellschaftliche Bedeutung und Wertschätzung direktvermarkteter landwirtschaftlicher, Produkte steigerten sich in den letzten Jahrzehnten erheblich. In der Stadt wie am Land eröffnen Bauernläden, die regionale sowie bio-Produkte verkaufen und so eine konsumkritische Klientel mit entsprechendem Einkommen anziehen. Die Ansprüche an die Qualität von Lebensmitteln und Kulinarik sind erheblich gestiegen, was im Weinviertel an einem vielfältigen Angebot von guten Weinen und gehobener Küche deutlich wird.
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Soziales Dorfleben
Ein Dorf verfügt über verschiedene soziale Treffpunkte. Das Wirtshaus stellt wie auch das Pfarrhaus oder die Bushaltestelle einen solchen Ort des sozialen Dorflebens dar. Alte Fotografien belegen, dass das Wirtshaus am Eck bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte. Die aus Znojmo zugereiste Familie Roth hatte sich hier eine Existenz durch die Pacht des Gemeindegasthauses aufgebaut. Das heutige Besitzerpaar, ein Koch und eine Zahnärztin aus Retz, übernahm 2021 das Gasthaus. Sie möchten hier einen Ort der Begegnung und des gemütlichen Zusammenseins für die Anwohnenden schaffen. Heute finden sich Gäste aus den umliegenden Ortschaften sowie Tagestourist:innen aus Tschechien und anderswoher hier ein, um Schnitzel mit Kartoffelsalat oder Schinken-Käse-Toast zu verspeisen und sich ein Bier oder ein Glas Wein zu gönnen. Gegenüber dem Gasthaus befand sich früher die Dorfdisko, die zuvor eine Tanzhalle war. Auch eine Kegelbahn und ein Gastgarten waren angeschlossen und boten den Dorfbewohner:innen Abwechslung. Sogar ein Kino befand sich in der Nähe. Heute nutzt ein Flohmarkt- und Altwarenhändler das Gebäude der ehemaligen Dorfdisko als Schauraum für seine Waren. Doch Vergnügungen beschränkten sich nicht nur auf das Dorf: Der Radius der hier Lebenden war und ist weiter und so boten und bieten auch andere Lokalitäten in Retz Treffpunkte für verschiedene Generationen. Je nach Mobilität sind und waren diese mehr oder weniger gut zu erreichen. Die Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs ist am Land nur beschränkt ausgebaut; Das Leben im Dorf ist von der Forschung oft als besonders dicht beschrieben worden. Bis zur Mitte des 20 Jahrhunderts herrschte ein hohes Maß an sozialer Kontrolle. Scheinbar jede Person wusste über Näheverhältnisse, Freundschaften oder Liebschaften, Todesursachen, Krankheiten, Schicksalsschläge oder Eigenarten der anderen Dorfbewohner:innen Bescheid und tauschte sich über Neuigkeiten aus. Das erforderte „gemeinschaftsverträgliche“ Verhaltensstrategien. So vertrat etwa der Vater einer heute siebenundfünfzig-jährigen Anwohnerin den folgenden Grundsatz: „Man muss mit allen im Dorf auskommen, sonst bist Du schnell allein“. Auch wenn das dichte Geflecht an Abhängigkeiten und Kontrolle am Land heute in der Form nicht mehr besteht, existiert weiterhin ein erstaunliches soziales Detailwissen.
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Versorgung am Land
Wir befinden uns vor dem Haus der heutigen Waldstraße 24. Erst 2004 wurde hier die Benennung mit Straßennamen eingeführt; bis dahin lautete die Adresse: „Oberretzbach 42“. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrieb Richard Roth hier neben dem Gasthaus, das wir bereits gesehen haben, einen Gemischtwarenhandel – der linke Hauseingang war der Eintritt ins Geschäft, das Fenster daneben die Auslage. Erich Landsteiner sen.: "Die woren Znaimer und die sind nach dem ersten Weltkrieg nach Retzbach und haben das Gemeindegasthaus unten gepachtet und dann haben's das Haus heroben gekauft und a Gemischtwarenhandlung gmocht". (O-Ton 1) Die Wohnverhältnisse in Retzbach waren damals wenig komfortabel. Das Grundstück 42 in Oberretzbach gehörte zu den besser ausgestatteten Häusern, denn es verfügte über einen Hausbrunnen. Damit konnte sich die Familie Roth den sonst üblichen Weg hin und zurück zu und vom "Gmoabrunn" – dem Gemeindebrunnen – zur Wasserbeschaffung sparen. Ihren Hofhund „Butzel“ trainierten die Roths sogar darauf, auf Zuruf in ein Laufrad zu springen und dadurch Wasser zu fördern. Das Ehepaar Roth hatte zwei Söhne, von denen der jüngere Sohn Anton das zuvor genannte Gemischtwarengeschäft des Vaters weiterführte, während der ältere Sohn Richard nach Wien ging. Als Anton bei einem Motorradunfall verstarb, übernahm seine Witwe die Geschäftsführung. Das Geschäft sowie das Haus werden noch bis heute mit Nennung ihres Namens als „bei der Roth“ beschrieben. Mit der Veränderung der Lebensverhältnisse am Land wandelte sich auch die örtliche Nahversorgung. Die in Retz ansässige Bäckerei Blei übernahm um 1970 das Gemischtwarengeschäft und versorgte die Anwohnenden über fast drei Jahrzehnte – bis 1999 – mit allerlei Dingen des täglichen Bedarfs. Noch heute erinnern sich Ortsansässige an Einkäufe im damaligen Geschäft „beim Blei“ und manche auch noch an die „Roth“. Sie erzählen, wie sie als Kinder am Tresen warteten, oder können immer noch die genaue Anordnung der zu erwerbenden Produktpalette – von Postkarten und Zeitungen über Frischwaren wie Milch, Käse, Fleisch oder Brot und Obst bis zu Nähzeug – aufzählen. Die Geschichte des Hauses bzw. Geschäftes illustriert zugleich die Geschichte der Nahversorgung am Land: Nach und nach verlagerte sich seit den 1970er-Jahren der Handel mit Dingen des täglichen Bedarfs vom Einzelhandel in Form der Greißlerei oder des Gemischtwarengeschäfts im Dorf hin zu Supermärkten in nahegelegenen Städten, wie etwa Retz. Die Spurensuche nach der Geschichte des Hauses Waldstraße 24 zeigt, dass es lange Zeit ein wichtiger Ort der Versorgung und des Austauschs war. Dies ist auch ein Grund, warum die heutige Besitzerin das damalige Auslagenfenster nun als Ausstellungs- und Begegnungsraum adaptiert hat. Das SchauFenster, das Sie links am Haus sehen, präsentiert cirka vier Mal jährlich alltagshistorische oder künstlerische Ausstellungen von Wissenschaftler:innen und Künstler:innen aus der Region.
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Brunnenplatz
Wir befinden uns hier am Brunnenplatz, einem zentralen Ort des Dorfes, an dem sich früher der zuvor genannte „Gmoabrunnen“ befand – und vermutlich auch eine Mühle. Ein direkter Anwohner, der sich auch als Hobbyhistoriker beschäftigt, berichtet: "…nicht jedes Haus hatte um das 19. Jh. herum einen Brunnen […]. Und da war es natürlich sehr gut, dass man gleich am Platz vorm Haus den Brunnen hat und auch einen kleinen Teich. Da waren die Gänse, die Enten und auch ein Löschteich." (O-Ton 2) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete das Dorf ein lebendiges Straßenbild aus: Auf den Straßen tummelten sich Ochsen- und Pferdekarren sowie Kinder und arbeitende Menschen verschiedenen Alters. Mit Kübeln wurde das Wasser von hier in die Häuser getragen. Die Flächen der Straßen und Wege waren noch nicht versiegelt, sondern bestanden aus Erdmaterial, gesäumt von großen Bäumen. Wo nun der Gehsteig endet, und die Fahrbahn beginnt, befand sich vormals ein Graben, in dem auch Kinder spielten. Die frühere Lebendigkeit ist mittlerweile einer zunehmenden Leere gewichen. Besonders wochentags und im Winter sind die Straßen weitgehend ausgestorbenen. Die ältere Bevölkerung beklagt die schwindenden sozialen Kontakte im Dorf, es scheint ihnen, als träfe man kaum jemanden mehr auf der Straße. Wie andernorts, hielt auch am Land die sogenannte „Modernisierung“ und damit die Motorisierung Einzug: Zwischen 1974 und 1980 bekam Retzbach eine Ortswasserleitung. Die Straßen wurden asphaltiert und zunehmend verschwanden die Ochsen, Pferde und bald auch Bäume; stattdessen prägen seither Autos, Traktoren und andere motorisierte Fahrzeuge das Erscheinungsbild. Der Trend zur Modernisierung erreichte auch die Haushalte und Betriebe. Stolz berichtet das pensionierte Weinbauern-Ehepaar Karola und Erich Landsteiner von der Betonierung ihres Innenhofes um 1970, die sie selbständig durchführten: „Das haben wir an einem Sonntag gemacht. […] Das war eine Plagerei. Das hat er mit dem Pflug aufgebrochen, daran möchte ich gar nicht mehr denken.“ Die Versiegelung des Hofes war Ausdruck und Symbol eines gehobenen Lebensstandards, der Komfort, Sauberkeit und Effizienz versprach. Hinzuziehende aus den Städten, die heute die alten Häuser erwerben, entfernen oftmals den Beton ebenso aufwendig wie er entstand, um Grünpflanzen setzen zu können und der sogenannten „Natur“ Raum zu bieten. Der Brunnenplatz zeigt heute ein buntes Ensemble an Häusern, das die Vielfalt an architektonischen Stilen und Lebensformen am Land widerspiegelt. Alteingesessene und Neuzugezogene wohnen hier nebeneinander und prägen das Ambiente. Beachtung verdient ein Haus, das nach einem historischen Schmuckbau ausschaut. Das Haus ist durch ein Sgraffito verziert. Sgraffito ist eine spezielle Putztechnik, die bereits in der Renaissance in Italien aufkam und sich im 16. Jahrhundert in mehreren Gegenden Mitteleuropas verbreitete. Im Fall des Hauses am Brunnenplatz handelt es sich allerdings um eine bewusste Neugestaltung eines alten Bauernhauses durch seinen Besitzer. Gemeinsam mit einem Freund beratschlagte sich dieser nach dem Kauf des Hauses vor etwa 20 Jahren über Möglichkeiten der Fassadengestaltung. Kurzerhand schlug zweiterer vor: "Ich mach dir ein Sgraffito". Aufgrund der Bedeutung des Weins für die Region entschied sich der Hausbesitzer für Dionysos als Motiv – den griechischen Gott des Weines.
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Kellergasse
Das Nebeneinander von Kellereingängen mit dahinter liegenden Gewölben wie hier bezeichnet man als „Kellergasse“. Weinbäuerinnen und Weinbauern lagerten hier früher ihren Wein, da die konstante Temperatur von 10 bis 12 Grad in den unterirdischen Kellern dafür besonders geeignet war. Die Keller waren darüber hinaus in besonders kalten oder warmen Jahreszeiten auch Räume für soziale Zusammenkünfte. Hier und dort befinden sich noch heute Sitzbänke und Tische nebst alten Kerzenständern in den Gewölben. Heute werden die Keller nur mehr selten zur Weinlagerung genutzt. Weinbauer Erich Nebenführ, der seinen Betrieb mittlerweile an Sohn Alex übergeben hat, berichtet, dass sie in „ihrer“ Kellergasse die einzigen sind, die dort tatsächlich noch Wein lagern. (Zitat Erich Nebenführ): „Zum Beispiel in der Kellergasse, wo wir den Keller haben, ist jetzt 'tote Hose'. Da war vor 40 Jahren, sag ich jetzt einmal nur, a wahnsinns Leben, bei der Weinlese, die habn alle den Traubensaft am Abend in den Keller g'führt, da war Betrieb dort. Oder im Winter, da ist man vom einen Keller zum andren gegangen, mit einem Trum Rausch heim'kommen (lacht) - So hat es sich abgespielt“ Heute sind die ansehnlichen Kellergassen des Weinviertels vor allem von historischem bzw. touristischem Interesse. In Zellerndorf, Haugsdorf und Pillersdorf oder weiteren Ortschaften in der Region finden Kellergassenfeste, Kellertage oder ähnliche Festivitäten statt, die zahlreiche Besuchende anlocken. Die „Trinkstation“ ist eine vergleichsweise neue Einrichtung, in der die ortsansässige Weinbau-Familie Ackerl ihre Weine und andere Getränke bereitstellt. Es herrscht Selbstbedienung mit beistehender Kassa. Auch am Land ist der Trend zu Direktvermarktung und Selbstbedienungsmöglichkeiten sichtbar: Landwirtinnen und Landwirte präsentieren ihre Produkte in Geschäften, Unterständen oder Hütten, aus denen sie gegen Geld entnommen werden können; auch Wein- bzw. Getränkeautomaten und sogar Kühlschränke mit fertigen Mahlzeiten garantieren die Versorgung in manchen ländlichen Räumen mit regem Fremdenverkehr. Wein stellt im Weinviertel ein die Landschaft, die Menschen und den Alltag prägendes Genussmittel dar. Als selbstverständlicher Begleiter sozialer Zusammenkünfte und speziell bei Mahlzeiten darf er nicht fehlen. Rund um den Wein rankt sich im Retzer Land ein dichter Veranstaltungskalender: Lang ist die Liste an Ausschank-Terminen in der Gegend – vom einfachen Buschenschank bis zum Edelheurigen mit Haubenküche. Zudem gibt es hier überregional bekannte Veranstaltungen, die ein breites Publikum ansprechen. Ein Höhepunkt ist etwa das Weinlesefest in Retz, das alljährlich Ende September stattfindet und bei dem aus den Brunnen am Hauptplatz Rot- und Weißwein fließen. Ein Festumzug verschiedener Vereine, Musikkapellen und Initiativen führt durch die Stadt und zeigt neben der Weinkönigin und dem Weinkönig auch die Weinbeergoaß, eine aus Weintrauben nachgebaute Ziege. Sie gilt als Symbol für Fruchtbarkeit und hat eine lange Tradition im Weinbau. Beliebt ist schließlich auch die Retzer Weinwoche, auf der die verschiedenen Weinbäuerinnen und Weinbauern der Region ihre Weine präsentieren. Hier treffen sich die ansässige Bevölkerung und zahlreiche auswärtige Besucher:innen zur Verkostung des neuen Jahrgangs.
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Genossenschaftsteich
Hier ist ein schattiges Plätzchen zum Ausruhen. Der Tisch und die Bänke wurden vom Dorferneuerungsverein errichtet. Der idyllisch gelegene Teich lädt zur Erholung ein; lange Zeit hatte er aber auch eine Versorgungsfunktion für den Ort. Es handelt sich um den früheren Genossenschaftsteich, der die gemeinschaftlich organisierte Versorgung mit Eis für das Kühlhaus gewährte. Bis in den Sommer hinein konnte dadurch Fleisch aus eigener Tierhaltung oder Jagd gelagert werden. Organisiert wurde die Kühlung von der Milchgenossenschaft Mitter-Oberretzbach. Sie wurde 1909 gegründet und 1976 aufgelöst, wie aus der Chronik Retzbach hervorgeht. Erich Pello weiß zur Milchgenossenschaft, einer Kooperative im Dorf, folgendes zu sagen: „Ich würde sagen, er ist auf jeden Fall aus dem 19 Jh. und alte Leute gibt es noch, die sich dran erinnern können, in der Kriegszeit oder Zwischenkriegszeit vll. noch bis in die 50er-Jahre, wie Eis abgebaut wurde, dann in Stroh gelagert wurde, damit man bis in den Sommer hinein genug Eisvorrat hatte, um damit kühlen zu können.“ Bekannt war die Technik aus der Bierbrauerei, wie Erich Pello weiter ausführt: „Bei jeder Brauerei früher gab es auch einen Kühlteich, wo man halt geschaut hat, dass man im Winter, und die waren früher viel kälter als jetzt, so viel Eis wie möglich schneidet, bricht, mit Pferdefuhrwerken und Schlitten in tiefe Keller bringt, wo die Temperaturen niedrig ist, zur Wand hin mit Stroh ummanteln, dass das halt so langsam wie möglich schmilzt.“ Das Eis wurde im Eisraum der Milchgenossenschaft gelagert, im Nebengebäude des heutigen Bauernshops an der Hauptstraße. 1959 wurde dort stattdessen eine Tiefkühlanlage eingebaut. Noch immer lagern Jäger der Region das erlegte Wild dort. Dass die Winter früher strenger waren, wie im Zitat bereits zu hören war, spiegelt sich auch in den Erinnerungserzählungen der Bewohner:innen. Früher diente der Genossenschaftsteich auch als beliebter Treffpunkt, an dem sich die Kinder und die Dorfjugend im Winter zum Eislaufen trafen. Eine Anwohnerin erinnert sich an ihre Kindheit in den 1970er-Jahren. Bevor sie als Gymnasiastin ins Internat nach Horn kam, galt für sie wie die anderen Schulkinder des Ortes eine eiserne Regel: erst die Hausaufgaben und dann raus. Mit Freunden zog sie umher – zum Eislaufen, ins Baumhaus, das sie sich im Wald gebaut hatten, oder auch zum Skifahren, das sie in Oberretzbach gelernt hatte. Sogar eine eigene Schanze errichteten sich die Kinder in einer Gasse im Dorf. Das „freie“ Umherlaufen bis zum Abendessen zählt mit zu den stärksten Kindheitserinnerungen vieler Menschen unterschiedlicher Generationen.
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Landschaft, Boden, Weinbau
Die hügelige Landschaft des nordwestlichen Weinviertels um uns herum zeigt eine übers Jahr großteils grüne Landschaft. Das Areal ist Naturschutzgebiet; Blumen am Wegesrand dürfen nicht gepflückt werden. Was sich unter den Füßen im Boden verbirgt, sind uralte angehäufte Gesteinsschichten. Der Geologe Thomas Hofmann erklärt: „Das Waldviertel […] war ein hohes Gebirge, das während der Steinkohlezeit aufgefaltet wurde.“ Immer wieder findet man im Boden – speziell in Weingärten – Muscheln. Es sind Spuren einer Millionen Jahre zurückliegenden Vergangenheit. Muscheln, Schnecken und das Sandvorkommen verweisen auf ein tropisches Klima, das vormals hier vorherrschte, sowie „Meeresverbindungen, die vom Weinviertel bis zum Indopazifik im Osten reichten“. Diese ferne Vergangenheit schaffte das geologische Fundament und die maßgebliche Grundlage für den Weinviertler Weinbau. Besonders die Urgesteinsböden aus Granit und Gneis geben dem Wein in der Region seinen charakteristischen Geschmack. Die uns umgebende hügelige Landschaft des nordwestlichen Weinviertels zeigt Weingärten, soweit das Auge reicht. Bei genauem Hinschauen lassen sich einzelne Parzellen erkennen – unterschiedliche Bewirtschaftungsmethoden, Rebsorten und Bodenbeschaffenheiten führen zu verschiedenen Erscheinungsformen und Farbbildern. Auch die Boden- und Rebenbearbeitung oder die Wahl der Pflöcke und Netze variieren. Mitunter besteht ein „Weingarten“ in dieser Region nur aus drei oder vier Reihen einer Riede; der Besitz einer Weinbäuerin oder eines Weinbauern setzt sich oftmals aus vielen verstreut gelegenen Parzellen zusammen. Die abwechslungsreiche Landschaft, die dieser Fleckerlteppich produziert, verdankt sich auch dem Umstand, dass die Kulturlandschaft nicht durch den Großgrundbesitz mächtiger Betriebe geprägt ist. Der Mitterretzbacher Historiker Erich Landsteiner forschte über die hier übliche kleinbetriebliche Wirtschaftsweise im Familienbetrieb. Er rekonstruierte, dass im 17. und 18. Jahrhundert maximal zwei Hektar Weingarten durch eine Familie bewirtschaftet werden konnte. Die noch heute sichtbaren, vergleichsweise kleinen Weingärten im Weinviertel sind die Folge einer langen Tradition der Erbteilung, die zu vielfach verstreut gelegenen kleinen Gartenparzellen im Weinbau oder anderer landwirtschaftlicher Betriebe führte. Für das Ackerland erfolgte in den 1970er-Jahren eine Kommassierung, landwirtschaftliche Flächen wurden zusammengelegt und neu organisiert, um die Produktion modernen Anforderungen anzupassen. Die Weinbauflächen waren von dieser Reform nicht betroffen. Diese kurzen Schilderungen deuten die komplexen sozialen und ökonomischen Verflechtungen bei der Weinproduktion und die Auswirkung auf die Landschaft an. Der Weinbau zeigt den Zusammenhang zwischen Besitzverhältnissen, Bewirtschaftungsformen und ökonomischer Praxis sowie zwischen Arbeitskraft und Entlohnung, der auch in der Landschaft sichtbar ist. Der seit den 1970er-Jahren vorherrschende Trend zur Konzentration der Weinbauflächen hält auch hier in dieser Region an.
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Heiliger Stein
Der sogenannte Heilige Stein, an dem wir uns hier befinden, ist ein beliebter Treff- und Aussichtspunkt. Durch seine Lage auf 320m Höhe erlaubt der Platz einen weiten Blick auf Südmähren und ins Retzer Land. Je nach Wetterlage sieht man bis hin zum Schneeberg, aber auch zu den Pollauer Bergen. Manchmal kann man den weißen Rauch des nahegelegene Atomkraftwerkes Dukovany in Tschechien sehen. Früher war der Heilige Stein ein wichtiger Wallfahrtsort – die vielen Martlerl auf dem Weg hierher zeigten den Pilgernden den Weg zur riesigen Kirche am Hügel, die dort war. Das Areal hatte einen Brunnen, um den später die noch heute sichtbare Kapelle gebaut wurde. Laut Archivalien soll die Quelle mehrere Personen geheilt haben. Der Name "Heiliger Stein" verweist auf den Schalenstein, der einige Meter von der Kapelle entfernt liegt. Heute bewährt sich der Bereich Heiliger Stein sowohl als sozialer als auch als gastronomischer Ort. Von Mai bis September schenken hier jedes Wochenende Winzerinnen und Winzer der Region ihren Wein aus und bieten lokale Kreationen wie das „Heiligensteinweckerl“ sowie selbstgemachte Aufstriche und Kuchen an. Zunächst war der Heilige Stein vom damaligen Bürgermeister Andreas Haas als reiner „Kulturplatz“ angedacht, doch wurde auf Anregung von vielfältigen lokalen Stimmen im Jahr 2008 auch ein Hütterl, die Weinschenke, errichtet. Karl Binder erzählt: „Und da war einer, der Löscher Helmut, Vizebürgermeister, und der ist zu mir gekommen, hat er gesagt: Karl, können wir da oben was machen? Die Leute sind alle sauer, weil da gibts nix und so...“ Finanziert wurde die Schankhütte durch den Dorferneuerungsverein und den Weinbauverein. Erbaut wurde sie mit tatkräftiger Unterstützung der ortsansässigen Bevölkerung. Die Gemeinde übernahm die Errichtung der WC-Anlagen inklusive der Senk- und Abwasserbehälter. Heute ist der Heilige Stein ein beliebtes Ausflugsziel für den Nahtourismus und die Anwohnenden. Auch verschiedene Vereine, wie etwa wie die Freiwillige Feuerwehr und die Trachtenkapelle Retzbach, veranstalten hier Feste und Treffen. Zu den überregionalen Highlights zählen auch tschechisch-österreichische Veranstaltungen mit Musik, aber auch private Feiern wie Hochzeiten finden hier statt. Das Ambiente ist durch die bogenförmige Stegkonstruktion der Aussichtsplattform besonders gestaltet, um nicht zu sagen ‚inszeniert‘. Die künstlerisch-architektonische Gestaltung erfolgte von der Gemeinde Retzbach in Kooperation mit dem Land Niederösterreich sowie Freiwilligen aus Ober- und Mitterretzbach. 1999 wurde dieses in der Chronik als ‚Kultur Ensemble‘ bezeichnetes Konstrukt eingeweiht. In derartigen Aktivitäten zeigt sich ein allgemeiner Trend: die Kommodifizierung der Region, die attraktiv und zugleich zur Marke gemacht wird. Beachtung verdient diesbezüglich auch der überdimensionale Schlüssel mit Blick nach Retzbach. Schlüssellöcher-Skulpturen wie dieses befinden sich an verschiedenen Orten in Niederösterreich. Sie sind ein Marketingprojekt der Weinstraße Weinviertel West und symbolisieren laut der Niederösterreich-Werbungs GmbH "Schlüsselerlebnisse" und -Aussichten. Der Werbecharakter dieser Weinbaukultur- und Landschaftsinszenierung ist unübersehbar. Es gibt auch eine eigene Weinerlebnisfaltkarte und eine App, die die Region und ihre Sehenswürdigkeiten präsentieren.
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Grenze
Entlang des Weges verläuft hier die Grenze Österreichs zur Tschechischen Republik. Dieser Grenzstreifen hat eine wechselvolle Geschichte. Während der k.und k.-Monarchie erstreckte sich der Alltags- und Lebenshorizont selbstverständlich auf Räume dies- und jenseits der Grenze. Eine Grenze als solche existierte nicht. Politisch wurde eine Grenze zwar markiert, doch wurde sie -laut Historiker Winfried Garscha- kaum von der Bevölkerung als solche wahrgenommen oder als Trennlinie gelebt. Zahlreiche Familiengeschichten zeigen Verbindungen, Eheschließungen, Orts- und Existenzwechsel zwischen Österreich und Tschechien. Und auch Erinnerungen an „die böhmische Großmutter“, die zur Arbeit nach Österreich kam und blieb, finden sich in manch einer Familie hier im Ort. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden aus dem zuvor bestehenden Nähe- und Nachbarschaftsverhältnis „fremde“ Länder und Menschen. Nationalistische Strömungen führten dazu, dass die Grenze symbolisch und politisch an Stellenwert gewann. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ging auch das Ende der Habsburgermonarchie einher und die Konflikte um die Aufteilung der Gebiete intensivierten sich. Der Zweite Weltkrieg verursachte erneut einen Bruch zwischen den Nachbarländern. 1938 mussten infolge des Münchner Abkommens die sudetendeutschen Gebiete der damaligen Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland abgetreten werden. Wenige Monate später besetzte die deutsche Wehrmacht gewaltvoll die restlichen tschechoslowakischen Gebiete. Die NS-Herrschaft zerrüttete „das mehr als 800-jährige Zusammen- und Nebeneinanderleben von Tschech[:innen], Deutschen und J[ü]d[:innen] in den böhmischen Ländern“, so schreibt der Historiker Arnold Suppan. Dies zeigte sich auch an der sofortigen Vertreibung und brutalen Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Grenze wurde zunehmend auch zu einer sprachlich-kulturellen Trennlinie. 1948 erfolgte die kommunistische Machtübernahme der Tschechoslowakei, die weitreichende Konsequenzen für das alltägliche Leben der Menschen im Grenzgebiet mit sich brachte. Der Eiserne Vorhang wurde errichtet und militärisch streng bewacht – durch einen Stacheldrahtzaun mit Wachtürmen. Soziale Beziehungen zwischen den Regionen wurden erheblich erschwert. Der Historiker Hanns Haas hatte Interviews über diese Zeit geführt und beschreibt: „Selbst ernannte tschechische Grenzwächter patrouillierten mit schussbereiter Waffe die Grenzlinie. Die im Zollhaus untergebrachten sowjetischen Truppen [hätten] ‚auf alles geschossen, was sie gesehen haben‘. […]“. Eine Anwohnerin erinnert sich an kindliche „Mutproben“ in den 1970er-Jahren entlang der Grenze: Kinder oder Jugendliche wetteiferten, wie weit sie sich 'rüber' – über die Grenze – trauten. Der Eiserne Vorhang hatte etwas Bedrohliches, aber auch Reizvolles. Dann kam die Wende. Am 4. Dezember 1989 startete in dieser Region der Abbau des Eisernen Vorhangs. In der Retzbacher Chronik liest man zu diesem Ereignis: "Am 22.12.1989 fiel auch bei uns der 'eiserne Vorhang'. (…) An der Grenze war eine kleine Eröffnungsfeier mit Politikern beider Länder, eine[r] Menge Neugieriger und der Musikkapelle Unterretzbach. Ein damals gepflanzter Baum soll an das Ereignis erinnern. Nach den Ansprachen konnten alle, ohne Pass, nach Hnanice gehen“. Heute hat sich die starre Trennung durch den Beitritt Österreichs zur EU 1995 und jenem der Tschechischen Republik 2004 zu einem offenen Schengenraum gewandelt. Mittlerweile prägen wieder dichte Verbindungen den Alltag in der Grenzregion. Tschech:innen wie Österreicher:innen binden das jeweilige Nachbarland in ihre Versorgungsroutinen ein: Die Leute wissen, wo Lebensmittel, Baumaterialien, Holz, Benzin oder Zigaretten jeweils am günstigsten zu erwerben sind. Österreichische Unternehmen beschäftigen vielfach tschechische Arbeitnehmer:innen. Und auch im Dienstleistungsbereich wird auf Arbeitskraft aus Tschechien gesetzt. Die regelmäßige Fahrt zum Friseur, zur Maniküre oder zum Essen nach Tschechien gehört heute zum Alltag vieler Österreicher:innen nahe der Grenze.
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Weinbau
Soweit der Blick reicht, sehen wir Weingärten. Das Land wird von Eigentümer:innen oder Pächter:innen mit verschiedenen Bezügen zur Landwirtschaft bzw. zum Weinbau bearbeitet. Heute gibt es nur mehr wenige Vollerwerbsweinbetriebe in Retzbach. – Zwei sind es in Mitterretzbach; in Oberretzbach existiert nur noch ein Vollerwerbsbetrieb. Vielfach wird Wein heute aber als Nebenerwerb oder zum Eigenbedarf produziert. Derartige Weinbäuerinnen und Weinbauern werden als „Leidenschaftswinzer:innen“ oder „Garagenwinzer:innen“ bezeichnet. Manche von ihnen erproben als „Neowinzer:innen“ den Weinbau als neues Arbeitsfeld neben ihrem Brotberuf, andere bewirtschaften die familiär geerbten Weingärten in ihrer Freizeit bzw. als Zusatzerwerb. Die Leidenschaft für den Wein und Weinbau zeigt sich auf verschiedene Art und Weise. Weinbau ist eine ausgesprochen arbeitsintensive Form der Landwirtschaft, die viel Wissen über den jeweiligen Weingarten, die Reben und Arbeitsschritte sowie – speziell bei kleineren Betrieben – weiterhin viel Handarbeit erfordert. Dabei fällt das ganze Jahr über körperliche Arbeit an. Im Winter werden die Reben geschnitten und im Frühsommer die Triebe eingestrickt. Auch die Traubenzone muss gestutzt werden, um zu dichtes Blattwerk zu entfernen. Neben dem regelmäßigen Ersatz ertragloser oder kranker Rebstöcke durch Neuauspflanzung bedarf der Boden der kontinuierlichen Pflege. Dafür wird der Boden bearbeitet, begrünt und gemäht. Zudem muss ein Weingarten– außer bei pilzresistenten Rebsorten – alle paar Wochen mit Fungizid bespritzt werden. Um dieses Thema ranken sich unterschiedliche Philosophien. Während Bio-Weinbauern und -bäuerinnen mit Schwefel und anderen „natürlichen“ Mitteln gegen die Pilze vorgehen, vertrauen konventionell arbeitende Weinbäuerinnen und Weinbauern auf synthetische Wirkstoffe. Um die Jahrtausendwende erfuhr der Weinbau in Österreich einen ökologischen Wandel. Biologische Anbauflächen haben sich in Österreich von 2002 bis 2018 mehr als verdoppelt. 2018 nahmen sie 25% der landwirtschaftlichen Fläche ein. Oft sind es politische Einstellungen und Sichtweisen auf Natur sowie persönliche Erfahrungen, die Landwirte zum Umdenken bewegen. Der frühere Geschäftsführer der Wein Marketing Austria, Willi Klinger, zitiert einen Weinbauern, der es „pervers“ fände, aufgrund des betrieblichen Umgangs mit Agrarchemie seinen eigenen Kindern wegen beim Spaziergang durch die Weingärten das Barfußlaufen oder Traubennaschen verbieten zu müssen. Aus solchen Beobachtungen resultiert immer öfter ein Umdenken zum nachhaltigen Wirtschaften aus Rücksicht für Nachkommende Generationen. Der Höhepunkt des Jahres ist schließlich die Weinlese im Herbst. Dann zeigen sich die Früchte der Arbeit. Wie der Wein schließlich schmeckt, wenn er in die Flaschen gefüllt wird, ist Ergebnis vielfältiger Entscheidungen, einer mehrmonatigen Begleitung und wohlüberlegter Handlungen. Die wahre Kunst der Weinproduktion besteht in der sorgsamen Abwägung über die Folgen einzelner Maßnahmen, die Gespür und Erfahrungswissen verlangen. Viele Entschlüsse, die im Weinherstellungsprozess nötig sind, gilt es in den Wochen und Monaten nach der Lese zu treffen. Weinbau verlangt also viel Know-How und Fingerspitzengefühl – es ist eine intensive sinnliche Arbeitserfahrung und wird von unbeeinflussbaren Umständen wie dem Wetter geleitet.
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Europastraße
Es gibt sichtbare und unsichtbare Grenzen. Zuvor gingen wir entlang der österreichisch-tschechischen Grenze, die materielle Spuren und Erinnerungen hinterlassen hat. Hier am Eck befindet sich das ehemalige Zollhaus von Mitterretzbach, wo die Grenzwache untergebracht war. Heute heißt die Straße, an der es gelegen ist, „Europastraße“. Die Benennung deutet auf nachbarschaftliche Verbindungen und übernationale Offenheit hin. Die Straße führt zur heutigen tschechischen Grenzstation oben am Hügel Richtung Norden. Kurz dahinter erinnert ein Denkmal an das ehemalige tschechische Zollhaus, das 1938 – kurz vor der NS-Okkupation des sogenannten „Sudetenlandes“ – von suddetendeutschen Freikorps und Niederösterreichischen Nationalsozialisten beschossen, erobert und geplündert wurde. Wo es einst kein Weiterkommen aufgrund des Eisernen Vorhangs gab, können heute Schengenbürger:innen die Grenze im Regelfall unkontrolliert passieren. Hügelabwärts nähern wir uns Retzbach, genau genommen Mitterretzbach, dem sich unmittelbar dahinter Oberretzbach anschließt. 1965 wurden beide Ortsteile vereint und 1970 mit Unterretzbach administrativ zu einer Gemeinde zusammengelegt. Oberretzbach hat 122 und Mitterretzbach 246 Einwohner:innen. Numerisch handelt es sich damit um die kleineren Ortschaften gegenüber dem mit 634 Bewohner:innen dominanten Unterretzbach. Und auch die Besitzverhältnisse und -größen unterscheiden sich. Das scheint die kleineren Ortsteile Mitter- und Oberretzbach zu verbinden. Zumindest lassen das Aussagen von Anwohnenden vermuten, wenn es etwa heißt, es käme bis heute kaum je zu Eheschließungen zwischen Ober- und Mitterretzbacher:innen mit Unterretzbacher:innen. Ein weiteres Beispiel ist etwa, dass auf Anregung des ehemaligen Vizebürgermeisters von Retzbach, Helmut Löscher, zu Beginn am Heiligen Stein, den wir vorher passiert haben, keine Weinbetriebe aus Unterretzbach ausschenken durften. Der Vorsitzende des Weinbauvereins, Karl Binder, erinnert sich: „Wie wir die Schänke gebaut haben und wie wir den Betrieb aufgenommen haben, war die Vorgabe: nur für Mitter- und Oberretzbacher Betriebe und Vereine“ Grenzziehungen fanden aber auch zwischen Mitter- und Oberretzbach statt, wie etwas das Übergangsritual des Brautauslösens. Ein 93-jähriger gebürtiger Mitterretzbacher erzählt davon, wie er den Junggesellen im Ort Wein schenken musste, um seine spätere Frau aus Oberretzbach symbolisch „auszulösen“. Symbolischen Charakter hat auch die Morib'schau, die gemeinschaftliche Abschreitung der Gemeindegrenzen am Markustag, dem 25. April jeden Jahres. Dabei gehen Vertreter:innen der Gemeinde, Erwachsene und vor allem Jugendliche die Grenzsteine ab und bestreichen sie zur Auffrischung der Markierung mit Kalk. War dies früher tatsächlich zur Kontrolle der Grenze nötig, um zu prüfen, ob die Grenzsteine nicht heimlich oder unabsichtlich versetzt wurden, so handelt es sich mittlerweile eher um einen öffentlichen Wandertag für Familien. Früher diente die Morib´schau auch dazu, die Dorfjugend mit den Ortsgrenzen vertraut zu machen. Bis zur Pandemie war sie auch in Retzbach üblich.
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Kaffeegasse
Wir befinden uns in der Kaffeegasse in Mitterretzbach. Es ist eine Dorfstraße mit alten Bauernhäusern; weiter oben die Straße entlang findet man auch Keller und Mehrfamilienhäusern. Zweitwohnsitzende aus Wien haben in der Kaffeegasse einen Landsitz erworben und liebevoll hergerichtet. Vor allem Menschen aus künstlerisch-akademischen Milieus zieht es hierher. Viele betätigen sich passioniert als Gärtner:innen auf den vormals landwirtschaftlich genutzten Grünstreifen hinter den Häusern. Hier leben beispielsweise: ein Künstler mit Familie aus Wien, der hier sein Atelier hat, ein Geschichteprofessor, eine Museumsdirektorin und pensionierte Zweitwohnsitzende. Daneben finden sich Ortsansässige, die sich Neubauten mit modernen Wohnstandards errichtet haben bzw. in Reihenhäusern oder Mehrfamilienhäuser im Dorf leben. Die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft sowie die Etablierung von verstärkten Home-Office-Regelungen im Zuge der Corona-Pandemie haben die Arbeits- und Lebenswelten in den letzten Jahren verändert. Dies hat dazu geführt, dass in vielen Berufen flexibler gearbeitet werden kann bzw. Leben und Arbeiten nicht mehr notwendigerweise örtlich getrennt stattfinden müssen. So prägen immer mehr sogenannte „Zuagraste“ das Ortsbild und -leben im ländlichen Raum. Dies zeigt sich zum Beispiel am Genussmarkt in der drei Kilometer entfernt liegenden Stadt Retz, der seit 2020 jeweils samstags stattfindet. Dort werden auf zehn bis zwanzig Ständen landwirtschaftliche Produkte aus der Region wie Gemüse, Eier, Käse, Fleisch oder Wein, aber auch kulinarische Schmankerl angeboten. Speziell von den neu Zugezogenen aus Wien wird der Markt gut angenommen und ist damit ein wichtiger sozialer Treffpunkt. Auch das kulturelle Angebot der Region ist ansehnlich: Neben Lesungen, Performances, Konzerten und Filmvorführungen gibt es ein prämiertes Festival in Retz, das vor allem Kunst- und Kulturinteressierte anspricht. Seit über 15 Jahren findet dieses Festival mit dem Titel „Offene Grenzen“ im Sommer in Retz und Znojmo statt und bietet Opern, Konzerte, Lesungen, Theater und Kunst an. Auf der zugehörigen Homepage heißt es, dass das Festival zur Neu- und Wiederentdeckung des gemeinsamen Kulturraumes dies- und jenseits der österreichisch-tschechischen Grenze initiiert wurde. Am Retzer Marktplatz befindet sich auch das "Weinquartier", die größte Gebietsvinothek Niederösterreichs mit besonderem Augenmerk auf regionale Weine. Sie ist Ausdruck einer gehobenen Weinkultur, die den ländlichen Raum erreicht hat. Auch in kulinarischer Hinsicht gibt es ein stetig wachsendes Angebot und so gründete2021 die Gruppe der „Genusspassionisten“ das slow food village Retz. Sie folgen damit einer in Italien 1999 gegründeten Bewegung – der Cittá Slow. Ziel ist, die Lebensqualität durch Erhöhung der Qualität regionaler landwirtschaftlicher Produkte und Speisen zu steigern sowie die regionale Küche mit lokalen pflanzlichen und tierischen Produkten zu fördern. Auch in Retzbach tut sich einiges: 2022 wurde der „Verein zur Erhaltung und Förderung von Kunst und Kultur“ in Unterretzbach gegründet, der mit Unterstützung eines lokalen Unternehmers den „Retzbacher Kulturraum“ betreibt.
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Überleben am Land
Zu sehen sind Gärten mit Obstbäumen, Blumen und Beeten. Es handelt sich um landwirtschaftliche Flächen hinter den Häusern. Sie führen vor Augen, dass früher vielfache Produktionsformen und Einkommensquellen zum Überleben am Land nötig waren. Arbeiten und Wohnen waren in den Straßendörfern des Weinviertels räumlich eng verflochten. Dabei prägten verschiedene Formen landwirtschaftlicher Nutzung und Einkommenssicherung das alltägliche Leben. Das heute pensionierte Ehepaar Landsteiner zum Beispiel betrieb seit den 1960er-Jahren Weinbau, der für ständige Arbeit rund ums Jahr sorgte. Auf Grünflächen hinter dem Haus – wie in dieser Region üblich – wurde Obst und Gemüse angebaut; zusätzlich hielt die Familie Tiere. Landsteiner sen. beschreibt: "Zuerst haben wir ja ghobt, a Pferd, zwa Kühe und zwa Jungvieh und Schweine hab'n wir gehabt, viere oder fünfe, die waren aber zu Selbstversorgung. […] beim Großvieh haben wir immer Futtermangel g'habt, weil es bei uns nicht so viel regnet. Dann hob i als Ollaerster im Dorf das Großvieh oalles verkauft und hab dann drei Zuchtschweine g'hobt und hob die Ferkel selber gezüchtet, und so circa vierzig Schweine gemästet im Johr.“ Die Nutztiere dienten zum Eigenbedarf oder Verkauf wie auch die Erträge aus Getreide, Erdäpfeln und Rüben, ebenso die selbsthergestellten Erzeugnisse wie eingelegte Gurken oder Marmeladen. Doch nicht alle Landbewohner:innen besaßen so viel Boden, dass sie ein ansehnliches Leben führen oder sich davon ernähren konnten. Dorfbewohner:innen mit kleinem Landbesitz wurden „Häusler“ genannt. Ihr Grundbesitz reichte zur Selbstversorgung nicht aus, doch bot er ihnen eine gewisse Absicherung. Sie verdienten sich ihr Haus bzw. ihr Einkommen durch die Arbeitstätigkeit bei Bauern mit mehr Grundbesitz. Landbewohner:innen, die kein eigenes Haus hatten, lebten als sogenannte Inwohner:innen bzw. auch „Inleut“ direkt bei den Bauernhöfen, für die sie arbeiteten. Sie verdienten sich Kost und Logis sowie etwas Geld durch Einbringen ihrer Arbeitskraft bei den jeweiligen Bauern oder Gewerbebetreibenden. Sie waren von Tagelohn abhängig und in der Hierarchie der Landbevölkerung niedriger gestellt. Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Erich Landsteiner illustriert diese Form der Lohnarbeit: „Bei einem Inwohner hat man sich ausgemacht: Na du, für die Miete arbeit'st zehn Tag bei mir oder wenns ein Ehepaar war, beide bei mir – ja – aber wenn ich dich brauch, arbeit'st sonst auch noch bei mir, aber natürlich bezahlt.“ Der Historiker Michael Mitterauer beschreibt, dass die Inwohner:innen für ihre Arbeit teilweise einen Bereich des Hofgrundes eigenständig bewirtschaften durften. Manchmal war es ihnen als Entlohnung auch erlaubt, ein kleines landwirtschaftliches Grundstück oder einen Weingarten zur persönlichen Bewirtschaftung zu nutzen. So konnten sie sich durch Anbau und Tierhaltung – mit Ziegen oder Hasen zum Beispiel – teilweise selbst versorgen, erzählt Erich Pello: „also der Bauer, für den sie wohnen konnten, für den sie gearbeitet haben, da war halt das Gegengeschäft, sie müssen auf die Ziegen aufpassen, die Kühe melken, im Weingarten arbeiten, aber dafür dürfen sie den Wein pressen, vielleicht wohnen und den Wein eigenverantwortlich verkaufen.“