Der Heilige Stein – Wallfahrtsort, Kultstätte und touristisches Erlebnis
Am nördlichen Rand der Gemeinde Retzbach, nur wenige Meter von der tschechischen Grenze entfernt, liegt das sogenannte „Kult-Ensemble“ um den Heiligen Stein. Es ist ein Ort, der seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Wallfahrtsort besucht wurde und den die Gemeinde auf ihrer Website als besonderen prähistorischen Ort vorstellt. Heute sind dort vielfältige Angebote des Kulturtourismus im Weinviertel sichtbar – eine Entwicklung mit Geschichte.
Der Heilige Stein ist eine christliche Wallfahrtsstätte, deren ehemalige Wallfahrtskirche „Maria am Stein“ 1997-1999 ausgegraben und deren Mauerreste restauriert wurden. Viele Websites wie Wikipedia oder die Homepage des Fremdenverkehrs im Weinviertel heben außerdem die Bedeutung des Ortes als Kultplatz hervor, in dessen Mittelpunkt ein Schalenstein steht. Die auffälligen, kreisrunden Kuhlen des Steins werden Kulthandlungen vor 50.000 Jahren zugeschrieben. Ende der 1990er-Jahre wurde das Ensemble neu gestaltet. Über den Platz erhebt sich nun ein auffälliger, ovaler Aussichtssteg; auch die zwischen Kastanienbäumen stehende kleine Kapelle wurde saniert. Zudem ergänzen eine Kette aus Basaltkugeln von Norbert Maringer – eine Attraktion für Wünschelrutengeher:innen – und ein großes Holzkreuz die heutige Zusammenstellung.
Als attraktives Ausflugsziel am Manhartsberg mit Blick nach Böhmen ist der Heilige Stein auch zentraler sozialer Treffpunkt der Anwohnenden. 2008 errichteten Retzbacher:innen dort eine Weinschenke, an der die Besucher:innen im Sommer Wein, aber auch alkoholfreie Getränke, belegte Brote und Mehlspeisen konsumieren können. Hinweisschilder erklären die in den angrenzenden Weingärten wirtschaftenden Weinbaubetriebe sowie Wander- und Radwege.
Zahlreiche Rad- und Wanderrouten führen am Heiligen Stein vorbei.
Kommodifizierung einer Landschaft
Es ist ein Ort, dessen Erscheinungsbild von der sogenannten touristischen Kommodifizierung des Weinviertels geprägt ist. Der Begriff Kommodifizierung rückte mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie der wachsenden Globalisierung und Privatisierung in den Fokus vieler wissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Er beschreibt die Nutzung von lokalen Gegebenheiten als ökonomische Ressource und Transformation zu einem erwerbbaren Produkt, kurz das „Zur-Ware-Werden“. Architektur, Kultureinrichtungen oder Geschichte, aber auch Natur und Landschaft werden im Zuge der Kommodifizierung in Wert gesetzt.
Zu den Maßnahmen der Inszenierung und Attraktivierung der Region zählt auch das übergroße, eiserne Schlüsselloch am Heiligen Stein. Es wurde, gemeinsam mit 25 weiteren, im Rahmen der Gründung der Weinstraße Weinviertel West 2020 aufgestellt und soll den Blick auf die besondere Landschaft des Weinviertels lenken. Angelehnt an die Türschlösser der gemeinschaftlich genutzten Weinkeller, entwickelte der Verein Weinstraße Weinviertel West die Schlüssellöcher während des von LEADER (EU-Förderprogramm für Kunst und Kultur) geförderten touristischen Entwicklungsprogramms 2017 als Wiedererkennungsmerkmal des Weinviertels.
Das Schlüsselloch beim Heiligen Stein in Retzbach.
Der 1999 errichtete Aussichtsteg rund um das Kult-Ensemble Heiliger Stein ist ein weiteres Exempel für die touristisch-ästhetische Inszenierung und Vermarktung der Landschaft, der auf Initiative der Gemeinde entstand. 1987 schrieb die Kulturabteilung des Landes Niederösterreich einen von der Gemeinde Retzbach initiierten Wettbewerb zur künstlerischen Neugestaltung des Ortes aus, auf den sich Max Pauly, ein Architekt aus Graz, erfolgreich bewarb. Er plante den Steg als modernen Gegenpol des historischen Ortes. „Die Benützer des Steges sollen die Möglichkeit haben, die Besonderheit des Wallfahrtsortes und die Schönheit der Landschaft bewusst zu erleben“, heißt es auf der offiziellen Website der Gemeinde Retzbach.
Der Aussichtssteg beim Heiligen Stein in Retzbach. Im Hintergrund sind die restaurierten Mauerumrisse der früheren Wallfahrtskirche "Maria am Stein" zu sehen.
Tourismus im Weinviertel
Fremdenverkehr im Weinviertel hat Geschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Niederösterreich ein beliebtes Reiseziel der österreich-ungarischen Monarchie. Die ersten Eisenbahnlinien führten in das Umland von Wien und die bürgerliche Oberschicht verbrachte Wochen und Monate der Sommerfrische in Reichenau an der Rax oder im noblen Gars am Kamp. 1871 eröffnete die Nordwestbahn auch eine Bahnverbindung von Stockerau nach Znaim über Retz mit einem Haltebahnhof in Unterretzbach. „Der Besuch der hier mehrmals erwähnten Ortschaften Mitter-, Ober- und Unter-Retzbach ist allen Natur- und Geschichtsfreunden nur bestens zu empfehlen. Zu wenigen Jahren, wenn die von Wien ausgehende Nordwestbahn zweigleisig wird, werden auch die an ihrer Strecke liegenden Orte als Sommerfrischen zu Geltung kommen und verdienen dies auch redlich“, heißt es im Znaimer Wochenblatt 1907. Dazu kam, dass neue Arbeitszeitenregelungen 1910 bezahlten Erholungsurlaub für alle Angestellten festlegten und Urlaub damit erstmals für breitere Bevölkerungsschichten möglich wurde.
Der Bau einer Brücke der Nordwestbahn in der Gemeinde Retzbach, um 1900.
Der prophezeite Erfolg der Ortschaften Retzbachs als Sommerfrischeorte sollte sich allerdings nicht einstellen. Mit dem Zweiten Weltkrieg brachen die Nächtigungszahlen in Niederösterreich ein. Auch nach 1945 erholte sich der niederösterreichische Tourismus nur langsam. Nun lag das Weinviertel in russischem Besatzungsgebiet. Straßen, Gleise und Beherbergungsbetriebe waren in desolatem Zustand, die Einreise nur an den zwei Grenzübergängen Enns und Semmering möglich. Erst 1969 übertrafen die Übernachtungszahlen im Bezirk Hollabrunn wieder die Zahlen von 1938. Das Bundesland kämpfte damit, sich gegenüber Salzburg, Tirol und Kärnten als Reiseziel zu positionieren. Grund dafür waren einerseits in Österreich ungleich verteilte Kredite für den Wiederaufbau touristischer Einrichtungen, andererseits galten die Landschaftsformationen Niederösterreichs, so die Europäische Ethnologin Nikola Langreiter, als wenig vorteilhaft, ohne große Seen und hohe Gebirgszüge.
Trotz alledem gab es zahlreiche Bemühungen, Niederösterreich als Reiseziel attraktiv zu machen. Getreu dem Credo „weniger ist mehr“ wurden die Abwesenheit des Massentourismus in Niederösterreich betont und die unverbaute Landschaft als Vorteil präsentiert. In den 1970er- und 1980er-Jahren warb das Land mit dem Slogan „Wo Ferien noch Ferien sind!“, möglicherweise ein subtiler Seitenhieb in Richtung der damals beliebtesten Urlaubsregionen Österreichs in Regionen wie Tirol, Salzburg oder Kärnten. Seit den 1990er-Jahren konzentriert sich die Vermarktung des Weinviertels (sowie des Mostviertels) auffällig auf Kulturtourismus. Der Historiker, Journalist und ehemalige Direktor des Wien Museums Wolfgang Kos stellt fest, dass Österreich von ausländischen Tourist:innen mit historischen Gebäuden vor „schöner“ Landschaft assoziiert wird, während beispielsweise die Schweiz für unberührte Wälder und schroffe Berge steht.
Die „Tourismusstrategie Weinviertel 2025“ der Weinviertel Tourismus GmbH hat neben kulinarischen Erlebnissen und Wellness auch die Vermarktung sportlicher Aktivitäten in der Kulturlandschaft sowie der Geschichte des Weinviertels zum erklärten Gegenstand. Das Ensemble um den Heiligen Stein, die Weinstraße und die Schlüssellöcher entsprechen dieser Tendenz. Tourismus, so eine These des deutschen Betriebswissenschaftlers Karlheinz Wöhler, macht Orte zu besonderen Plätzen, die eine Differenz zum Alltag schaffen und erlebbar machen. Materialitäten wie der Aussichtssteg, restaurierte Gebäude und Gebäudereste, Hinweisschilder und Informationstafeln vermitteln Tourist:innen „typische Kultur“, die den Ort einzigartig und besonders macht. Konsumiert werden, so Wöhler, Erlebnisse. Mit dem erhöhten Aussichtssteg soll ein solches Erlebnis durch den Blick auf weite Landschaft und Dörfer ermöglicht werden.
Sozialer Treffpunkt Heiliger Stein
Zugleich aber handelt es sich um einen belebten sozialen Treffpunkt – speziell über die Sommermonate. Anstelle eines überwucherten Weingartens am Ende der Zufahrtstraße plante und baute die Gemeinde Retzbach mithilfe von Finanzierungen des Weinbauvereins und des Dorferneuerungsvereins 2008 eine Weinschenke. Von Mai bis September können sich dort Besucher:innen Weine der Region, aber auch Limonaden, Säfte oder Wasser, belegte Brote und Mehlspeisen holen und diese auf den umliegenden Sitzgarnituren konsumieren.
Die Weinschenke beim Heiligen Stein in Retzbach.
Weinbaubetriebe der umliegenden Ortschaften, aber auch die Pfarre Retzbachs, Vereine wie die Trachtenkapelle, der Dorferneuerungsverein, die Jugend Retzbach oder die Freiwillige Feuerwehr schenken hier 2023 aus. Die Sitzgelegenheiten sponserte ein Geldinstitut, für die Sanitäranlagen kam die Gemeinde Retzbach auf. Indem der Erlös zwei Wochenenden dem Weinbauverein und dem Dorferneuerungsverein gespendet wurde, refinanzierte sich der Bau. Karl Binder, Vorstandsmitglied im Weinbauverein, ist für den reibungslosen Betrieb der Weinschenke verantwortlich. Er kümmert sich um die technischen Geräte vor Ort, stellt die alkoholfreien Getränke bei sich kühl und lagert die Sitzgarnituren zu deren Schutz über den Winter ein. Jährlich stimmt der Weinbauverein den Ausschankkalender der beteiligten Winzer aus der Region ab. „Lohnt sich echt hinauf zu strampeln und regionale Köstlichkeiten zu probieren“, meint ein Fahrradfahrer in einem Internetforum.